Kapitel 1, Teil 1
Fly away

„Und auserdem bin ich schon mit Aysha verabredet.“
„Bring sie doch auch mit.“
„Nee, lass mal.“
„Aber alle werden da sein. Sogar Marlon will kommen.“
„Schön für ihn. Aber ich kann nicht.“
„Saskia!“ Hannes stellte sich vor mich, wollte mich wohl am Weitergehen hindern. „Was willst du eigentlich?!“
Ich will endlich wieder leben! „Nichts. Ist doch alles in Ordnung.“ Ich ging an Hannes vorbei und konnte sehen, wie er die Augen verdrehte. Er tat mir leid.
Als ich schon dachte, er hätte aufgegeben, rief er mir noch mal hinterher: „Aysha wird auch da sein! Ich hab heute morgen mit ihr geredet.“
Scheiße. Ich blieb stehen. Ich schloss die Augen. Und stellte mir vor, wie Hannes mit Aysha geredet hatte. Aysha war sicher ziemlich perplex, als sie von der angeblichen besten Freundin Saskia gehört hatte.
„Kannst du dir eigentlich nicht vorstellen, dass dich vielleicht Leute tatsächlich mögen? Wieso tust du so, als ob du mit dieser Clique rumhängst?“
Ich sammelte Kraft. Dann drehte ich mich um und funkelte Hannes an. „Du hast diese Clique immerhin eingeladen!“ Sollte er ruhig denken, ich sei ein Arschloch. Passt mir ganz gut. Bin ich ja auch. Und so kann er mir nicht zu nahe kommen.
„Matsche hat sie eingeladen. Den kennst du doch schon.“ Woher sollte ich ihn näher kennen? Ich bin erst seit zwei Monaten hier!

Ich bin nicht hingegangen. Je weniger ich mit den anderen zu tun habe, desdo besser. Keiner wusste irgendwas über mich. Und so sollte es auch bleiben! Ich lebe im Knast. Nee, das ist kein Gefängnis. Das ist das private Wohnheim für Jugendliche und junge Erwachsene mit Persönlichkeitsstörungen. Das ist schweres Wort für Wegsperreinrichtung für Leute wie mich. Deswegen heißt es auch bei uns Knast. Und warum ich hier bin? Weil ich eine Persönlichkeitsstörung habe. Ich bin impulsiv, meint, ich denk nicht, bevor ich handel, ich hab ne Idenditätsstörung, meint, ich hab keine Ahnung, wer ich eigentlich bin, ich bin launisch, meint, ich schnauz die Leute ohne Vorwarnung voll, ich hab autoagressive Züge, meint, ich ritze mich, ich hab chronische Leere, meint, ich fühle nichts und hab viel Langeweile, die sich anscheinend durch nichts unterkriegen lässt, ich hab ein, wie das so schön in der Diagnose heißt, ein Muster unangemessen intensiver, aber ständig wechselnder zwischenmenschlicher Beziehungen die durch die Extreme Idealisierung und Ablehnung gekennzeichnet sind, meint, Leute sind entweder wunderbare Menschen oder klassische Schweine und Mensch kann zu Schwein werden, von einem Moment auf den anderen. Meine Güte, ist doch so! Entweder man ist ein Schwein oder nicht.
So, und als ich dann noch angeblich versucht haben soll, mich umzubringen, da hat man mich eingeliefert.

Karolyn klopfte. Obwohl das hier ein Scheißort ist, wenigstens gibt es Karolyn. Sie ist meine Betreuerin. Und meine beste Freundin. Ihr kann ich einfach alles sagen. „Komm rein“, sagte ich. Als Karolyn eintrat, lächelte ich.
„Hallo, Saskia“, sie setzte sich in meinen Ohrensessel. Bei jedem anderen wäre ich ausgeflippt. Es ist mein Ohrensessel. Den habe ich von Mama bekommen, als kleine Erinnerung an Zuhause. Aber bei Karolyn geht das schon in Ordnung.
„Frau Fern hat dich vermisst“, meinte sie.
„Ich sie aber nicht.“ Frau Fern war die Gruppentherapeutin. „Diese ganze Psychokacke ist doch...“ ich steckte den Finger in den Mund. „Dazu bringt die mich noch!“
„Na, so schnell kotzt man aber nicht, wenn man jemanden sieht.“ Karolyn lachte.
„Ich schon. Du glaubst gar nicht, wie schnell ich kotze, wenn ich will.“
Karolyn beachtete die Andeutung nicht. „Saskia, als du herkamst, bist du grade aus dem Krankenhaus entlassen worden.“
„Ich weiß!“
„Die Ärzte sagten, du wolltest dir nicht wirklich das Leben nehmen.“
„Ich hab das auch gesagt. Es war ein Unfall!“
„Das stimmt nicht.“ Sie sagte das ganz ruhig. Nicht wie ein Vorwurf. Wie eine Feststellung.
„Stimmt ja doch!“, rief ich. Ich musste doch wissen, was wirklich passiert war.
„Bei welchem Unfall schneidet man sich die Pulsadern auf?“
„Ich habe... ich wollte Kartoffeln schälen!“
Karolyn zog die Augenbrauen hoch. „Und?“
„Ich bin mit dem Messer ausgerutscht.“
„Und das hatte so eine unglückliche Flugbahn, dass es deine beiden Handgelänke getroffen hat?“
In meinen Augen standen Tränen. „Es war ein traumatisches Erlebnis und du solltest doch an der Uni gelernt haben, wie man damit umgeht!“
„Und unter Anderem wegen diesem Trauma solltest du in die Therapie.“
Ich saß mit offenem Mund da.
„Gehst du gleich noch zu ihr?“
Ich verdrehte die Augen. „Kannst du diese komische Therapie nicht machen?“
„Leider nicht. Dafür hab ich die falsche Ausbildung.“
„Ich mag die Fern nicht.“
„Tus mir zuliebe, ja? Ich glaube, du wirst es nicht bereuen.“
„Hmmm. Na gut. Ich geh gleich zu ihr.“
„Direkt nach dem Abendbrot?“
„Gleich irgendwann.“
„Also nach dem Abendbrot, ja?“ Sie reichte mir die Hand. Und ich kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie bei solcher Geste nicht nachgeben würde. „Okay“, sagte ich und schlug ein.

Aber bis dahin würde es noch ein paar Stunden dauern. Ich legte mich auf mein Bett und dachte an Mama. Und an Jörn. Das ist Mamas Freund. Ich weiß nicht, ob ich ihn mag oder nicht. Er war schon so lange da, wie ich mich erinnern kann. Auf seine Art war er ja ganz nett, aber irgendwie war er nicht immer ein Stiefvater. Ich grinste in mich hinein. Armes, missbrauchtes Mädchen. Jörn war doch selbst irgendwie ne arme Socke. Naja, es war schon scheiße, aber irgendwann gewöhnt man sich dran. Ich meine, manchmal war es ja auch irgendwie ganz nett, wenn man als 10jährige seinen Stiefvater so in der Hand hat... der hat mir echt aus der Hand gefressen. Einmal hat er mir sogar n Pony geschenkt. Nur, um meine Gunst zu sichern. Naja, Mama war natürlich nicht begeistert. Aber die hat doch eh nichts auf die Reihe gekriegt. Jedenfalls nicht, was Jörn angeht.
Dann gab es noch Joje, meinen Bruder und Johanna. Die kleine Johanna. Meine kleine Halbschwester. Das erste mal seit ich hier bin, dachte ich fast gleichzeitig an Jörn und Johanna. Scheiße! Die kleine Johanna! Sie ist doch noch so klein. Kalter Schweiß. Ich hätte sie doch beschützen müssen! Wie geht es ihr? Sie wird doch wohl nicht...
Etwas klopfte. Nicht an der Tür. Ich sah auf. Es kam vom Fenster. Es war schon dunkel. Winter. War sicher nur der Sturm.
Es klopfte wieder. Komisch. SASKIA, MACH MIR DOCH AUF. Aber...nein! Ich weigere mich, das zu glauben! Hab ich jetzt neben Borderline auch noch Schizophrenie, dass ich Stimmen höre? MACH MIR BITTE AUF. Viel fehlte nicht, und ich hätte geschrien. Aber dann wären nur die Betreuer auf mich aufmerksam geworden. Und ich weiß nicht, ob ich das vielleicht sogar vor Karolyn verschweigen sollte. HAB KEINE ANGST, SASKIA. MACH MIR BITTE AUF. ODER SOLL ICH WIEDER GEHEN? Wieder dieses Klopfen. Die Neugier zwang mich aus dem Bett. Ich ging ans Fenster. Und glaubte, zu träumen.
Da flog ein riesiger Vogel direkt vor meinem Fenster. Ohne sich von der Stelle zu bewegen. Er sah mich direkt an. Abwartend. Ich zögerte. Würde er mich angreifen? Er sah nicht ungefährlich aus. NEIN, ICH WERDE DIR NICHTS TUN, SASKIA. Etwas an seinem Tonfall lies mich ihm glauben. Ich zitterte und bebte. Aber öffnete die Riegel.
„Hallo, Saskia“ Ich trat einen Schritt zurück. Dann noch einen. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich habe Halluzinationen! Das wiederspricht allen naturwissenschaftlichen Dingen! Das existiert doch schlichtweg nicht. Oder?
„Willst du mit mir kommen?“
Mein Mund klappte immernoch auf und zu. Der Vogel sah mich die ganze Zeit ruhig an.
„Wie denn?“, fragte ich schließlich. „Wohin denn?“
„Steig auf meinen Rücken und finde es heraus.“ Er sprach leise. Die anderen würden ihn nicht hören. Ich schüttelte den Kopf. Einen Vogel reden hören!
„Du willst nicht?“ Er klang enttäuscht.
Ich sah auf. „Doch!“ Das war viellicht die Chance, hier weg zu kommen. Nicht zu fassen, dass ich das alles ernst nehme! „Ich versuche, raus zu kommen, ja?“, flüsterte ich, unwillkürlich passte ich mich der Stimme des Vogels an.
„Das brauchst du nicht. Kletter auf meinen Rücken.“
Ich sah mich um.
„Du brauchst auch nichts mitzunehmen. Das wirst du sowieso nicht brauchen.“
„Woher weißt du das?“
„Ich weiß es.“
„Und woher weißt du, was ich grade gedacht habe? Und auch eben?“
„Ich weiß es eben.“ Der Vogel sah mich einladend an. Ich fasste Mut. Kletterte auf die Fensterbank. Und von da aus auf den Rücken des Vogels.
Mit einem gewaltigen Satz, den ich bei der sanften Stimme nicht erwartet habe, hob er ab. Der Wind schlug mir ins Gesicht und ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, dass wir wirklich flogen. Und das mit atemberaubender Geschwindigkeit. Es dauerte nicht lange, und wir haben die Stadt weit hinter uns gelassen. Ich sah die Wälder und die Städte vorbeifliegen, ganz tief unten. Trotz der Nacht konnte ich genug sehen. Vielleicht war es der Vollmond. Wir flogen über mein Elternhaus, dann über die Alpen, wo wir mal Ferien gamacht haben, im nächsten Moment sah ich das Meer. Immer weiter und weiter. Als ich wieder Land unten sah, registrierte ich, dass wir doch tatsächlich über die Sahara flogen! So langsam bekam ich Angst. „Wohin fliegst du mit mir?“ brüllte ich.
KEINE ANGST!, sagte der Vogel in meinem Kopf. SOLANGE DU BEI MIR BIST, KANN DIR NICHTS PASSIEREN.
„Aber wohin geht’s denn?“
DER ORT HEISST AVENSEE.
„Dauert es noch lange?“
HALTE DICH FEST! Ich krallte mich an seinem Hals fest und mit einem riesigen Knall verschwanden wir. Ich kann mich an nichts mehr erinnern.




aireen am 09.Mai 12  |  Permalink
:-)
Klingt wie der Anfang einer spannenden Story!!!
LG
Irina