Kapitel 2, Teil 1
Status Quo

„Die Verbindung der Erde mit Kravao steigt an, meine Leute haben versucht, es aufzuhalten, aber ohne Erfolg.“
Agraf nickte. „Ich weiß. Such dir ein paar Gefärten und versuch, unsere Leute auf der Erde zu warnen. Sie sollen weiter so viele Leute wie es geht in Sicherheit bringen. Sromer kennt die Leute mit dem besten Draht zu den Gefährdeten. Was die steigende Verbindung angeht, könnt ihr im Moment nichts machen.“
Der Elf verneigte sich nochmal und verschwand. Als Agraf sich umdrehte, sah er mein verunsichertes Gesicht. Obwohl es mich nach allem, was bis jetzt war, nicht wundern würde, wenn er auch hinterm Kopf Augen hätte. Er nickte. „Ja, sieht wirklich nicht gut aus für viele Menschen.“
„Was ist Kravao?“
„Kravao ist wie Avensee eine Welt, die mit der Erde in Verbindung steht. Und so, wie Avensee, wie du sicher schon gemerkt hast, das Gute weckt, weckt Kravao das Schlechte.“
„Avensee weckt das Gute?“
„Ist das so unvorstellbar? Du hast, seit wir hier sind, nur einen Wutanfall gekriegt, und das war auch nur ein Kurzer.“
„Oh“ So direkt hat mich noch keiner auf meine Anfälle angesprochen.
Agraf lächelte wieder. Aber es war ein sehr freundliches Lachen. „Glaub nicht, ich wüsste nichts von deiner Krankheit“, sagte er, „Sie ist einer der Gründe, warum ich dich hergebracht habe.“
Ich wollte nicht über meine Krankheit reden. Deswegen fragte ich „Aber warum wächst die Verbindung von Kravao zur Erde? Davon habe ich noch nie was gemerkt.“
„Wirklich nicht? Denk dran, was ich dir eben über Kravao gesagt habe, diese Welt weckt das Böse, das Schlechte und das Unnatürliche.“
Die Weltkriege. Die Chancenungleichheit. Terrorismus, Manipulation. Mobbing und Bullying. Hm. So langsam fing ich an, zu verstehen.
Agraf nickte. „Denk mal noch einen Schritt persönlicher.“
Jörn. Seine schleimige und schmierige Art und der Missbrauch. Und jetzt wahrscheinlich Johanna. Die kleine Johanna! Und Mama, die mich einfach in den Knast abgeschoben hat. Dass ich überall nur Ablehnung erfahren habe, nach spätestens zwei Wochen wollte keiner mehr was mit mir zu tun haben. Wegen meiner Anfälle. Für die ich doch gar nichts kann! Und die wenigen, die noch mit mir Kontakt haben wollten, habe ich abblitzen lassen. Woher soll ich wissen, dass die mich wirklich mögen oder nur so tun? Woher soll ich wissen, dass ich wirklich die bin, die sie mögen und ihnen nicht nur was vorspiele? Ob ich wohl Agraf davon erzählen kann? Nein, vielleicht ein andermal.
„Is okay.“, sagte der, „Wann immer du kannst.“
So langsam fing ich an, ihn zu mögen. Jedenfalls hab ich mich noch nie von jemandem so ernst genommen gefühlt, noch nicht mal von Karolyn. Das will viel heißen.
„Was werden die Elfen jetzt machen?“, fragte ich und setzte mich auf einen Stein, der am Bach lag. Etwas verwirrt sah ich dem fließenden Wasser zu, das genau so unstetig aussah wie ich mich fühlte.
Agraf setzte sich neben mich. „Es gibt eine Möglichkeit für die Menschen, Kravao zu entkommen. Sie ist nicht kompliziert, aber diese Chance muss ergriffen werden. Einige Menschen konnten dadurch schon in Sicherheit gebracht werden, nun sollen sie ihren Mitmenschen davon erzählen. Einige der Elfen werden jetzt auf die Erde fliegen und die geretteten Menschen daran erinnern. Sie haben ein so schwaches Gedächnis.“
„Können die Menschen sie sehen?“
„Hast du schonmal einen Elf gesehen?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Aber sie sind dir schon begegnet. Meistens sind sie nicht sichtbar. Aber sie tun dir nichts, und den anderen auch nichts.“, fügte Agraf hinzu, als er mein beunruhigtes Gesicht sah.
„Was ist das denn für eine Möglichkeit, die wir haben?“
„Später. Wenn ich dir jetzt viel davon erzähle, würde dich das nur verwirren.“
„Kannst du nicht wenigstens ein bisschen sagen? Ich hab auch Freunde auf der Erde. Und eine Familie.“
„Ich weiß. Und ich weiß, dass du sie irgendwo auch liebst, trotz allem, was passiert.“
„Hat das auch mit Kravao zu tun, dass ich sie nicht richtig liebe?“ Agraf nickte.
„Aber was kann man da machen? Sag es doch, bitte!“ Ich wusste nicht, warum ich es so dringend wissen musste, ich musste es einfach wissen.
Agraf seufzte. „Alles, was ich dir im Moment sagen kann, ist, dass sie sich Hilfe suchen müssen, von jemandem, der sie vor dem Einfluss dieser Welt schützen kann.“
„Gibt es da jemanden? Wenn diese ganzen Sachen, an die ich eben gedacht habe, von Kravao kommen, dann kann man das doch nicht einfach so besiegen.“
„Einfach so geht das auch nicht. Nicht mal eben so nebenbei.“ Er lächelte. „Aber doch, es gibt da jemanden.“
„Dann muss derjenige aber ein Übermensch sein.“ Ich lachte.
Agraf lachte mit mir. „Mehr als das.“

Es schien gar nicht richtig dunkel zu werden in dieser Welt. Ich lag in einer Höhle und versuchte, ein bisschen zu schlafen. Agraf stand vor der Höhle und sah irgendwo hin. Ich konnte nicht erkennen, wohin und eigentlich war es mir auch egal.
Ich konnte nicht schlafen. Nicht nur wegen der Helligkeit. Und auch nicht nur, weil ich in einer anderen Welt war.
Es war Agraf. Dieser Vogel gab mir Rätsel auf. Er sagte, er ist ein Adler. Hm. Passt irgendwie zu ihm. Aber wer ist Agraf? Dieser Elf hat ihn mit einer Art Respekt behandelt, den man eigentlich keinem entgegen bringt. Und wenn ich mit ihn spreche, geht es mir meistens auch nicht anders. Ich kann dann nicht anders, als ihm innerlich Respekt entgegen zu bringen. Ich kanns mir nicht verkneifen. Er hat sowas an sich, das einem Respekt abverlangt. Aber guten. Das hab ich noch nie erlebt. Sonst hieß Respekt immer Angst. Richtig Angst hab ich nicht vor ihm. Hatte ich vielleicht am Anfang.
Und warum hat er mich hergebracht?
Ich bin soooo müde. Ich muss schlafen. Aber ich kann nicht. Ich öffnete die Augen und sah Agraf vor mir.
„Du schläfst ja noch nicht.“
„Ich kann nicht schlafen.“
„Machst dir viele Gedanken, was?“
„Hmmm.“
„Wenn du reden willst, ich bin immer für dich da.“
„Warum?“
Agraf lächelte. „Ich mag dich einfach.“
„Und der Elf?“ Ich war zu müde, um die Frage auszuformulieren.
„Du meinst, warum er mich Majestät genannt hat?“
„Hmmm“
„Weil ich königlich bin.“ Agraf sagte das ganz ruhig, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
Ich war zu müde, um groß zu reagieren. Agraf stieß mich leicht mit dem Schnabel an. Ich hatte mal einen Wellensittig, der hat das auch gemacht, wenn er mir zeigen wollte, dass er mich mag. „Schlaf jetzt. Die restlichen Antworten kommen später.“ Fast augenblicklich schlief ich ein.